Erklärt bekommt man diesen Effekt meist auf klassische Weise (über das Brechungsgesetz von Snellius etc.). Diese Erklärung ist aber nur hinreichend genau - denn mit einem einfachen Wasserglas kann man bereits die klassische Physik aushebeln, wie wir noch sehen werden.
Wenn ich Licht in ein Glasprisma schicke und den Reflexionswinkel im Inneren des Prismas (also an der Grenzfläche von Glas zu Luft) so einstelle, dass Totalreflexion auftritt, kann ich dann hinter dem Prisma Licht finden? Kann es also sein, dass nicht der ganze Lichtstrahl total reflektiert wird?
Die Antwort auf diese Frage lautet
- klassisch gesehen: NEIN.
- quantenmechanisch gesehen: JA, eh klar.
Und da wird's interessant:
Es hat sich herausgestellt, dass man Licht (Photonen), Materie - generell eh alles - durch eine Wahrscheinlichkeitswelle beschreiben kann. Diese Wellenfunktion (eig. das Betragsquadrat dieser Wellenfunktion, aber egal) beschreibt die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu finden. Analysiert man die Wellenfunktion für die oben beschriebene Situation, gelangt man zu der überraschenden Erkenntnis, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man Photonen "hinter" dem Glasprisma - also in der "klassisch verbotenen Zone" - findet, nicht (!) gleich Null ist! Also: Klassisch gesehen wird der gesamte Lichtstrahl total reflektiert, für einzelne Photonen findet man mit Hilfe der Quantenmechanik jedoch, dass es möglich ist, Licht auf der anderen Seite der Grenzschicht zu finden, die eigentlich kein einziges Photon durchlassen dürfte.
Diese Funktion klingt allerdings hinter dieser Grenzschicht exponentiell ab, geht also sehr schnell gegen Null.
Reflexion der Wellenfunktion an einer Grenzschicht mit Tunneleffekt1. (Die Funktion klingt im weißen Zwischenbereich exponentiell ab.) |
Ich glaube es war R. P. Feynman, der diese Situation einmal annähernd so erklärte:
Die Photonen "schnüffeln" etwas über die Grenzschicht hinaus, denn wie sollen sie sonst wissen, dass der Bereich hinter der Schicht optisch dünner ist als der Bereich, in dem sie sich gerade befinden. (Totalreflexion funktioniert ja nur von optisch dicht auf optisch dünn!) Nachdem sie sich beide Bereiche angeschaut haben, entscheiden sie zufällig, in welchem sie sich weiterhin fortbewegen. Die Photonen (und das gilt für alles im Universum) sind also nicht auf nur einen Bereich beschränkt, auch wenn es die klassische Physik vorschreibt.
Dass Photonen nicht schnüffeln, nicht schauen und sich keine Gedanken über ihre weitere Fortbewegung machen, ist hoffentlich jedem klar - das soll nur ein anschauliches Bild für die Ausbreitung der Wellenfunktion vermitteln. ;-)
Und nun kommen wir zu unserem Do It Yourself-Teil des Artikels, der wahrscheinlich ohnehin jedem bekannt ist:
Fülle ein Glas mit Wasser und schau (ein bisschen schräg) von oben hinein. (Am besten funktioniert das mit einem stinknormalen Glas mit relativ großflächig glatten Oberflächen.) Unterhalb der Wasseroberfläche stellen die Glas"wände" Grenzschichten dar, an denen Totalreflexion auftritt. Bewege deinen Finger außerhalb des Glases ohne Glas-Berührung hinter dem Fleck, auf den du schaust. Wenn der Finger nicht sichtbar ist, liegt das an der Totalreflexion. (Dann weiß man "Ich mache alles richtig". ;-) )
Drücke nun den Finger auf das Glas. Plötzlich sieht man auch von Innen den Fingerabdruck. Man kann auch oft die Rillen in der Haut deutlich erkennen.
Hier äußert sich der Tunneleffekt!
Der Übergang von Glas auf Luft erfolgt von optisch dichterem auf optisch dünneres Medium, also ist Totalreflexion möglich (wie man im Versuch ja gesehen hat). Drückt man allerdings den Finger auf das Glas, verschwindet die optisch dünnere Schicht (also die Luft) und wird mit dem optisch ziemlich dichten Daumen ersetzt. Jetzt ist Totalreflexion nicht mehr möglich (weil Übergang von optisch dünner auf optisch dichter)! In den Rillen der Haut kann aber noch genügend Luft sein, sodass das mit dem totalen Reflektieren funktioniert.
Würde die Wellenfunktion des Lichts nicht aus dem Prisma austreten, dürfte es keinen Unterschied machen, ob man den Finger aufs Glas drückt oder nicht. (Klassisch: "Da das Licht nicht auf der anderen Seite war, weiß es gar nicht, dass sich der Brechungsindex dort verändert hat.")
Das Phänomen, dass Licht in "verbotene" Bereiche eindringen (oder "verbotene" Zonen überwinden) kann, nennt man den quantenmechanischen Tunneleffekt.
Man kann also schon mit einem Glas Wasser quantenmechanische Effekte sichtbar machen, was ja irgendwie ziemlich cool ist.
Der Tunneleffekt spielt übrigens eine enorm große Rolle in der Welt. Z.B. würde die Sonne ohne ihn nicht leuchten können (und Leben auf der Erde wäre somit nie auf diese Art entstanden). Es gibt noch viele andere Vorkommen und technische Anwendungen davon.
Vielleicht denkt ihr beim nächsten Glas Wasser kurz an die faszinierende Quantenmechanik und seid aber gleichzeitig froh, dass Teilchen auf die großen Distanzen, die wir in unserer makroskopischen Welt (verglichen mit Elementarteilchen) erfahren, praktisch nicht tunneln! Sonst würde das Wasser nicht so lange im Glas bleiben. ;-)
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