Samstag, 3. August 2013

Somnium - der erste Sci-Fi-Roman

Habt ihr euch schon einmal gefragt, wann zum ersten Mal ein Science-Fiction-Text geschrieben wurde und wer somit der Schöpfer dieses Genres war? - Ich nämlich bisher nicht.
Aber vor kurzem habe ich in Carl Sagans Buch "Cosmos" über eben dieses erste Science-Fiction-Werk gelesen. Ob man nun ein Sci-Fi-Fan ist oder nicht - die Geschichte um dieses Buch und die Handlung des Werkes sind durchaus interessant, denke ich, und haben außerdem eine gewisse kulturelle Bedeutung.

"Somnium" (lat. für Traum) heißt dieser kurze Text und wurde von niemand anderem geschrieben als von Johannes Kepler um 1610. (Von ihm stammen die berühmten Keplerschen Gesetze für die Bewegung von Planeten, die wohl jeder irgendwann schon mal lernen musste.) Veröffentlicht wurde es allerdings erst 1634 (überdies in kürzerer Form als gedacht) aufgrund verschiedener Umstände, auf die ich später noch kurz eingehen werde.

(Ich werde übrigens die von Daniel A. Di Liscia (Kepler-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften) überarbeitete Version der deutschen Übersetzung von Ludwig Günther (1889) mit dem Titel "Keplers Traum vom Mond" verwenden, welche von Rainer Zenz 2013 digitalisiert und gestaltet wurde. Kurzum: Ich behandle diese Version, welche laut Impressum gemeinfrei ist.)


Ausgangspunkt für Keplers "Somnium" ist das kopernikanische Weltbild, das die Sonne in den Mittelpunkt des Universums rückt und das sich zu Keplers Zeit noch nicht vollständig gegen das vorherrschende geozentrische (ptolemäische) Weltbild durchsetzen konnte. Der evangelische Theologe, Mathematiker und Astronom Johannes Kepler war allerdings von dessen Gültigkeit überzeugt und konnte - im Gegensatz zu den wohl meisten seiner Zeitgenossen - den folgenden, durchaus sinnvollen Gedanken fassen: Wir Menschen auf der Erde sind an die Beschleunigung in Richtung des Erdmittelpunkts gewohnt und spüren auch die Bewegung der Erde um die Sonne nicht. Deshalb unterliegen wir der Illusion, wir würden uns in Ruhe befinden. Mögliche Bewohner anderer Welten (z. B. des Mondes) würden das gleiche von sich behaupten - nämlich dass auch sie sich in Ruhe befinden. Eben diesen Gedanken wollte Kepler in seinem "Somnium" einem breiteren Publikum bewusst machen, sodass das heliozentrische (= kopernikanische) Weltbild an Anerkennung gewinnen konnte.
Buchumschlag mit Tuschezeichnungen von Galileo Galilei, 1610

"Als im Jahre 1608 die Zwistigkeiten zwischen den Brüdern Kaiser Rudolph und Erzherzog Matthias ihren Höhepunkt erreicht hatten und deren Handlungen vielfach auf Beispiele aus der böhmischen Geschichte zurückgeführt wurden, richtete ich, durch die allgemeine Neugier bewogen, meinen Sinn der böhmischen Legende zu, und als ich dabei zufällig auf die Geschichte der durch ihre magische Kunst berühmten, heldenmütigen Zauberin Libussa stieß, geschah es eines Nachts, dass ich, nach der Betrachtung der Sterne und des Mondes für Höheres empfänglich geworden, auf meinem Bett einschlief - und da schien es mir, als läse ich in einem auf der Messe erworbenen Buch Folgendes: ..."
(Dieses Zitat, sowie alle anderen in diesem Artikel stammen aus dem oben angeführten E-Book "Somnium - Traum vom Mond". Eine Seitenangabe o. ä. macht aufgrund des Dateiformats wenig Sinn.)


Wie eine klassische Legende beginnt mit diesen Worten der Text - alles, was dann folgt, ist auch in der Erzählung ein "somnium", ein Traum. (Vermutlich wählte Kepler diese Form des Erzählens bewusst, um sich gegen Konsequenzen seiner Verbreitung solch revolutionären Gedankenmaterials zu schützen.)
Johannes Kepler, 1610
(Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Johannes_Kepler_1610.jpg)

Der Traum handelt von Duracato, einem 14-jährigen, jungen Isländer, dessen Vater im Alter von 150 Jahren verstarb als der Bub erst 3 Jahre alt war. Duracatos Mutter - Fiolxhilde - sammelt Kräuter, die sie dann "zu Hause unter mancherlei Zeremonien und Sprüchen zubereitete, in Säckchen von Bockshaut tat und sie so dem Schiffsvolke (...) zum Verkauf bot". Als der Junge eines Tages aus Neugier ein Säckchen aufschneidet, verkauft die verärgerte Fiolxhilde ihn an den Seemann als Entschädigung für dessen Verlust des Handels mit dem Säckchen. Duracato ist nun auf dem Weg nach Norwegen, verlässt jedoch aufgrund einer Krankheit (er hatte immerhin kein Zaubersäckchen dabei) bereits in Dänemark das Schiff, wo er 5 Jahre bei dem großen Astronomen Tycho Brahe als dessen Gehilfe verbringt, bevor er wieder zu seiner Mutter in die Heimat zurückkehrt. Dort angekommen erzählt er ihr von seinem erlernten wissenschaftlichen und astronomischen Wissen. Dieses Wissen (um die Position der Erde im Sonnensystem) ist seiner Mutter jedoch bereits bekannt, denn sie hörte es bereits lange zuvor von ihrem Lehrmeister, einem "Dämon von Levania". Sie will ihren Sohn daraufhin in dieses ferne Land Levania bringen, damit er diese wundervolle Welt kennenlernt.
Nach Sonnenuntergang, als die Sichel des Mondes zusammen mit Saturn im Sternbild des Stieres aufleuchtet, ruft Fiolxhilde den Dämon und als die beiden sich setzen, ihre "Häupter verhüllt mit ihren Gewändern", hören sie Stimmen des Dämons, der sie auf die "fünfzig Tausend deutsche Meilen" lange Reise zur Insel Levania bringen soll. (Levania ist in Keplers Erzählung übrigens der Mond! Dieses Detail ist vielleicht ganz hilfreich. ;-) ) Hier der genaue Wortlaut dieser dämonischen Stimmen:
"Der Weg zu ihr [der Insel Levania] von der Erde und zurück steht sehr selten offen. Unserem Geschlecht ist er zwar dann leicht zugänglich, allein für den Erdgeborenen, der die Reise machen wollte, sehr schwierig und mit höchster Lebensgefahr verbunden. Keinen von sitzender Lebensart, keinen Wohlbeleibten, keinen Wollüstling nehmen wir zu Begleitern, sondern wir wählen solche, die ihr Leben im eifrigen Gebrauch der Jagdpferde verbringen oder die häufig zu Schiff Indien besuchen und gewohnt sind, ihren Unterhalt mit Zwieback, Knoblauch, gedörrten Fischen und anderen von Schlemmern verabscheuten Speisen zu fristen. Besonders geeignet für uns sind ausgemergelte alte Weiber, die sich von jeher darauf verstanden, nächtlicherweile auf Böcken, Gabeln und schäbigen Mänteln reitend, unendliche Räume auf der Erde zu durcheilen. (...)
Der ganze Weg, so lang er ist, wird in einer Zeit von höchstens vier Stunden zurückgelegt. Uns Vielbeschäftigten steht die Zeit zum Antritt der Reise nicht frei, wir erfahren davon erst, wenn der Mond in seinem östlichen Teile sich zu verfinstern beginnt. Bevor er wieder in vollem Licht erstrahlt, müssen wir die Fahrt beendet haben (...)."

Der Dämon beschreibt anschließend, wie die Reise verlaufen wird, und dass sie selbst für die wenigen auserwählten und geeigneten Menschen strapaziös ist. Dabei beschreibt Kepler einige Probleme, die bei tatsächlichen Reisen ins Weltall beachtet werden müssen, z. B. der dramatische Effekt der Trägheit von Massen.
"Diese Anfangsbewegung ist für ihn [den Menschen] die schlimmste, denn er wird gerade so emporgeschleudert, als wenn er durch die Kraft des Pulvers gesprengt über Berge und Meere dahin flöge. Deshalb muss er zuvor durch Opiate betäubt und seine Glieder müssen sorgfältig verwahrt werden, damit sie ihm nicht vom Leibe gerissen werden, sondern die Gewalt des Rückschlages in den einzelnen Körperteilen verteilt bleibt. Sodann treffen ihn neue Schwierigkeiten: ungeheure Kälte und Atemnot."

Auch die Verhältnisse im All stellt sich Kepler teilweise ganz richtig vor (wenn man davon absieht, dass ein feuchter Schwamm gegen die Atemnot helfen soll): Es herrscht Schwerelosigkeit und für einen Reisenden sind große Geschwindigkeiten nicht spürbar, solange keine Beschleunigung stattfindet.
"Wenn der erste Teil des Weges zurückgelegt ist, wird uns die Reise leichter, dann geben wir unsere Begleiter frei und überlassen sie sich selbst (...)"

Am Mond bzw. in Levania angekommen müssen sich die Reisenden sofort in Höhlen verstecken, bevor die Sonne aufgeht. Auch die Gefährlichkeit der Sonnenstrahlung außerhalb der Erdatmosphäre erkannte Kepler bereits. (Deshalb spricht er auch davon, dass die Reise nicht länger als vier Stunden dauern darf, denn nur für diese Zeitspanne kann die Erde unter gegebener Konstellation einen Schatten auf den Mond werfen.)
In den Höhlen befinden sich weitere Levanianer, die Duracato über ihr Land erzählen.
Auf der Mondoberfläche gibt es kilometerhohe Erhebungen, wie Kepler richtig vermutete.
Bild: Zentralberg im nach dem dänischen Astronomen benannten Tycho-Krater bei Sonnenaufgang
(Quelle: http://www.nasa.gov/mission_pages/LRO/news/lro-tycho.html)

Levania ist in zwei Hemisphären geteilt - Bewohner der einen Hemisphäre ("Subvolvaner") können "ihre Volva" (= die Erde) immer sehen, während die Volva auf der anderen Hemisphäre für die "Privolvaner" nie sichtbar ist. Nacht und Tag zusammen sind in Levania so lange wie ein Monat auf der Erde. Zwei Wochen scheint die Sonne durchgehend, dann ist zwei Wochen lang Nacht. Flora und Fauna unterscheiden sich dadurch grundlegend von der Erde. So herrscht auf Levania enormes Wachstum, verbunden mit kurzer Lebensdauer von Pflanzen und tierischen Geschöpfen. Aufgrund der lang anhaltenden Hitze sind die Privolvaner Nomaden, die Unterschlupf in Höhlen suchen oder sich aufgrund ihrer flachen Atmung lange unter Wasser aufhalten können, wo das Sonnenlicht abgeschwächt wird. Ein Großteils des levanischen Lebens entsteht am Beginn der Nacht und wird am Beginn des Tages von der Sonne wieder verbrannt.

Nachdem Kepler auf einigen Seiten die beiden Hemisphären weiter beschreibt, hört seine Erzählung plötzlich abrupt auf:
"Als ich soweit in meinem Traum gekommen war, erhob sich ein Wind mit prasselndem Regen, störte meinen Schlaf und entzog mir den Schluss des aus Frankfurt gebrachten Buches."
So würden Subvolvaner die Volva etwa zu Mittag sehen (also eine Woche nach Sonnenaufgang)
Bild: Dritter Aufgang der Erde aus der Sicht der Apollo 8-Mission im Mondorbit
(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:NASA-Apollo8-Dec24-Earthrise.jpg)

Kepler wartete mit der Veröffentlichung von "Somnium", denn er wollte auch Übersetzungen von Werken von Plutarch und Lukian anfertigen und anhängen, die für ihn nämlich wichtige Einflüsse für sein Werk darstellten. Außerdem witterte er bereits, dass Verfechter des geozentrischen Weltbildes für ihn eine Gefahr darstellen könnten, wenn er "Somnium" veröffentlichte.
Im Jahre 1611 verlor Johannes Kepler leider eine Kopie, die in falsche Hände geriet. Bald wurde der junge Isländer Duracato aus dem Traum mit Johannes Kepler selbst identifiziert und Fiolxhilde mit seiner Mutter Katherine Kepler. Das war durchaus naheliegend, denn Kepler hatte einige Zeit mit Tycho Brahe zusammengearbeitet (und aus dessen astronomischen Beobachtungsdaten letztendlich die Ellipsenbahnen der Planeten abgeleitet). Seiner Mutter wurde vorgeworfen, eine Hexe zu sein - wird doch in "Somnium" die Mutter Duracatos mit Magie, Dämonen und Begleiterin der levanischen Dämonen (unter denen Hexen ja besonders beliebt waren - so die Erzählung) in Verbindung gebracht. Da das Genre "Science-Fiction" in der damaligen Zeit völlig unbekannt war, wurde Keplers Schrift als Beleg dafür verwendet, dass seine Mutter eine Hexe sein musste. ("Weil warum sollte man etwas erfinden und niederschreiben, wenn es gar nicht so ist?") Außerdem wurde nicht allzu lange davor die Tante Katherines als Hexe verbrannt.
Katherine Kepler wurde also 1615 eingesperrt und erst fünf Jahre später nach unermüdlichen Bemühungen ihres als Mathematiker und Astronomen anerkannten Sohnes - Kepler machte sich große Vorwürfe - wieder freigelassen. Zwei Jahre darauf starb sie an den Folgen der Gefangenschaft.

Dass die fiktive Person der Fiolxhilde tatsächlich an Keplers Mutter angelehnt war, wird durch folgende Textpassage aus Keplers Werk nahegelegt, die den Anfang des Traums beschreibt (Zur Erinnerung - Kepler wagte es erst nach dem Tod seiner Mutter, das Buch für die Veröffentlichung vorzubereiten):
"Mein Name ist Duracato, mein Vaterland Island, das die Alten Thule nennen, meine Mutter war Fiolxhilde, deren unlängst erfolgter Tod mir die Freiheit verschaffte, zu schreiben, wonach ich schon lange vor Begierde brannte. So lange sie lebte, sorgte sie eifrig dafür, dass ich nicht schreibe: denn, meinte sie, es gäbe gar viele verderbliche Verächter der Künste, welche verleumdeten, was sie nicht verständen und dem Menschengeschlechte frevelhafte Gesetze gäben, durch welche nicht wenige bereits zum Schlund des Hekla verurteilt seien."


"Somnium" oder "Der Traum vom Mond" kann als das erste bekannte Science-Fiction-Werk angesehen werden. Es ist auch - so vermute ich - eines der ersten Bücher, welches man als populärwissenschaftlich bezeichnen könnte.
Der Dämon in der Erzählung ist dabei die Verkörperung von Keplers Stimme, die sich für die schier unendlichen Möglichkeiten ausspricht, die die Wissenschaft für die Menschheit bereithält. Kepler hatte mit dieser Schrift zahlreiche Entdeckungen und Aspekte der Raumfahrt vorweggenommen, was sehr beachtlich ist. So wurden z. B. einige von ihm vorausgesagten Facetten der Mondlandschaft kurz nach Fertigstellung seines Textes von Galileo Galilei durch Beobachtungen mit dessen Teleskopen bestätigt.
Andererseits täuschte sich Kepler an vielen Stellen. So gibt es auf dem Mond keine Lebewesen, keine Flüsse, etc. Auch fehlt dem Mond eine Atmosphäre, weil er nicht groß genug ist, um diese halten zu können. (Kepler meinte etwa auch, dass die runden Krater auf der Mondoberfläche auf intelligentes Leben hindeuten müssten, da Geometrie nur in Verbindung mit Intelligenz entstehen könnte. So seien ja auch die Pyramiden auf der Erde, welche vom Weltraum sichtbar sind, von intelligentem Leben erschaffen worden. Darauf, dass Mondmaterial bei Asteroideneinschlägen gleichmäßig in alle Richtungen geschleudert wird, kam er nämlich leider nicht.)

Kepler beeinflusste mit diesem Werk seine Nachwelt. So war "Somnium" mit Gewissheit dem Schriftsteller Jules Verne oder dem Sci-Fi-Pionier H. G. Wells bekannt. Auch Arthur C. Clarke kannte Keplers Werk, wenn auch nur indirekt.
Etwa 360 Jahre nach "Somnium" reisen Menschen auf den Mond. Das hätte wohl damals selbst
dem ersten Sci-Fi-Autor Kepler zu viel Vorstellungskraft abverlangt.
Bild: Astronaut John W. Young salutiert hüpfend vor der Amerika-Flagge auf dem Mond (Apollo 16)
(Quelle: http://spaceflight.nasa.gov/gallery/images/apollo/apollo16/html/as16-113-18339.html)

Wie gesagt - eine deutsche Version des Buches gibt es hier zu finden. (Die unkommentierte Version von Keplers Erzählung ist nur 20 Seiten lang und schnell zu lesen. Wie bereits oben erwähnt, handelt es sich um ein unvollständiges Werk - der Grund dafür ist Keplers Tod im Jahre 1630. Er starb kurz vor der seinerseits lang ersehnten Veröffentlichung seines Werkes über die Astronomia Nova.)
Eine ausgezeichnete und ausführlichere Zusammenfassung mit zusätzlichen Hintergrundinformationen findet man hier (in englischer Sprache).


Vielleicht konnte ich jemanden dazu anregen, dieses kleine Büchlein zu lesen. Ich habe bewusst große Teile seiner Erzählungen über die "ferne Insel Levania" ausgelassen. ;-)


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