Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl im Jahr 2006. (Credit: Carl Montgomery, via Wikimedia Commons) |
Was ist bei diesem Unfall eigentlich passiert? Warum ist es überhaupt so weit gekommen? Hätte er sich vermeiden lassen? Konnten wir aus diesen Ereignissen etwas lernen?
Bereits oft habe ich Menschen getroffen, die sich Antworten auf diese Fragen zutrauten. Dabei variierte der inhaltliche Gehalt und der Detailgrad dieser Antworten erheblich. Manchen genügte die simple Meinung "Da ist das Atomkraftwerk explodiert, halb Europa war dann verstrahlt und wahrscheinlich war das alles sowieso nur eine Frage der Zeit, bis wir zu spüren bekommen, dass wir von dieser unkontrollierbaren Technologie die Finger lassen sollen!" - andere verspürten durchaus den Drang, etwas weiter in die Details und Subtilitäten des Unfalls einzutauchen und wussten auch bereits, dass es grundlegend verschiedene Typen von Reaktoren gibt, dass zahlreiche Betriebsfehler und Regelverletzungen letztendlich zum Unfall von Tschernobyl führten und dass man, um sie vollständig zu begreifen, diese Katastrophe nicht nur im technologischen Rahmen, sondern auch im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen betrachten muss. Fast alle Antworten, die ich hörte, waren allerdings lückenhaft oder verdrehten die Fakten.
Mich selbst würde ich auch nicht als Experte in diesem Gebiet bezeichnen, doch immerhin habe ich mich im Studium und in der Freizeit bereits eingehender mit dem Thema Kernenergie und Reaktortechnik beschäftigt.
Im heutigen Artikel möchte ich die Problematik irgendwo im Bereich zwischen den ganz simplen, eindimensionalen Antworten und den umfangreichen, alle Zusammenhänge in Betracht ziehenden Antworten behandeln und einen Teil meines Wissens und meiner Meinung zu dieser Nuklearkatastrophe in einem knappen Überblick zusammenschreiben. Ich werde viele Details der Ereignisse aussparen und vermutlich viele Aspekte unerwähnt lassen. Mehr mehr wissen möchte, der möge sich im Kommentarbereich nach dem Text zu Wort melden bzw. wird anderswo fündig werden - es gibt genug Informationen in der Welt. ;-)
Nachdem ich grob beschreiben, welcher Typ von Reaktor es war, in dem der Unfall passierte, und welche verschiedenen Ereignisse schließlich zum Unglück führten, und dabei fleißig kommentieren werde, wird es später einen Fortsetzungs-Artikel geben, in dem ich versuchen werde, manche Aspekte der Kernenergie in einem größeren Rahmen darzustellen und gleichzeitig einen Teil meiner Meinung und meiner Sichtweise bezüglich der Energiegewinnung durch Kernkraftwerke zu argumentieren.
Ich sollte vielleicht auch gleich zu Beginn erwähnen, dass ich mit keinem der beiden Texte nicht versuchen werde, entweder die Seite der Kernkraft-Gegner oder der -Befürworter einzunehmen und zu verteidigen, sondern vielmehr darauf abziele, Gedankenanstöße zu geben, die der/die Leser/in dann selbst verfolgen und sich eine eigene Meinung bilden kann. Sollte ich falsche Informationen verbreiten, dann bitte ich euch, mich aufmerksam zu machen (...z. B. gleich direkt via Kommentarfunktion, sodass auch andere etwas von diesem Gedankenaustausch haben).
So, jetzt wo ihr über meine Intension Bescheid wisst, kann es ja losgehen:
(Credit: Holek, via Wikimedia Commons) |
Das Kernkraftwerk Tschernobyl
...befindet sich neben der ehemaligen Arbeiterstadt Prypjat und etwa 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Es bestand aus vier Blöcken, von denen der letzte (Block 3) Ende 2000 stillgelegt wurde. Zwei weitere Blöcke waren im Bau, konnten aber aufgrund der radioaktiven Belastung nach dem Unfall im Block 4 vorerst nicht fertiggebaut werden. Spätere Pläne zur Fertigstellung wurden wieder verworfen.Die Typen der Reaktoren sind vom sog. RBMK-1000-Typ, wobei "RBMK" transkribiert Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalny ("Hochleistungsreaktor mit Kanälen") bedeutet und "1000" für die 1000 Megawatt elektrischer Bruttoleistung eines Reaktors steht. Die Reaktoren vom Typ RBMK unterscheiden sich in ihrer Bauweise stark von anderen Bauformen, wie z. B. den viel üblicheren Druck- (PWR) oder Siedewasserreaktoren (BWR). Der Hauptunterschied liegt nämlich in der modulartigen Bauweise des RBMKs. Anstelle eines zentralen Druckbehälters um den Reaktorkern, der wiederum eingebettet ist in mehrere Sicherheitshüllen ("Containments"), wie es z. B. bei Siede- und Druckwasserreaktoren der Fall ist, besteht der RBMK aus vielen einzelnen Druckröhren, in denen sich der nukleare Brennstoff befindet. Die Kettenreaktion in den Druckröhren lässt sich mit aus- und einfahrbaren Steuerstäben kontrollieren, deren Antrieb übrigens viel zu langsam war, um in Gefahrensituationen eine Reaktorschnellabschaltung herbeizuführen. (Die Steuerstäbe brauchen fast 20 Sekunden, um vollständig in den Kern eingefahren zu werden.)
Eines der größen Sicherheitsrisiken des RMBK-Typs ist allerdings der positive "Dampfblasen-Koeffizient" (void coefficient). Um eine Kernspaltung herbeizuführen und dadurch Wärme zu erzeugen, die wiederum die Turbinen des Kraftwerks antreiben kann, werden langsame oder "thermische" Neutronen auf Urankerne geschossen, welche dadurch zerfallen, wodurch wiederum Neutronen entstehen. Diese neu entstandenen Neutronen müssen allerdings erst abgebremst werden, um wiederum Urankerne spalten zu können. Die Aufgabe des Abbremsens kommt in einem Kernreaktor dem "Moderator" zu. In üblichen Reaktoren (PWR, BWR) ist der Moderator Wasser. In RBMKs allerdings ist der Moderator aus Graphit, denn auch Graphit kann Neutronen gut abbremsen, um die Kettenreaktion aufrechtzuerhalten. Das Problem dabei ist, dass der Graphit sich dadurch dramatisch erwärmt - er muss somit gekühlt werden. Dies passiert mit Wasser und funktioniert auch im Normalfall einwandfrei. Problematisch wird es allerdings dann, wenn die Wasserversorgung zum Kern ausfällt (z. B. durch einen Rohrbruch in der Zuleitung). Dann ist das Kühlmittel weg, der Graphitmoderator bremst weiterhin brav die Neutronen ab, treibt die Kernspaltung an und erwärmt sich dabei rasend schnell. Der enorme Temperaturanstieg bringt im schlimmsten Fall den Reaktorkern zum Schmelzen, wodurch radioaktives Material - oft begünstigt durch Wasserstoffexplosionen - in die Umwelt entweichen kann.
Bei Druck- oder Siedewasserreaktoren (als Beispiel) hat das durch den Kern zirkulierende Wasser sowohl eine Kühl- als auch eine Moderatorfunktion. Kommt es also bei diesem Typ von Kraftwerk zu einem Kühlmittelverlust ("LOCA", loss-of-coolant accident), so fällt auch der Moderator weg und die Neutronen können nicht mehr abgebremst werden. Die primäre Kernspaltung stoppt also, weil keine langsamen Neutronen mehr da sind. (Es muss "nur" mehr die Nachzerfallswärme der Spaltprodukte abgeführt werden.) Kraftwerke mit dieser Eigenschaft haben einen negativen Dampfblasen-Koeffizienten.
Wie man bereits vermuten kann, hat ein RBMK enorme Sicherheitsmängel und Designfehler. Sicherheitssysteme sind teilweise nicht oder mit zu geringer Redundanz vorhanden oder erfordern zu viel menschliches Handeln. Durch die Bauweise ist der Reaktor auch im Normalbetrieb nur aufwendig handhabbar und es gab dafür ein dickes Regelwerk. Zusätzlich besteht hoher Wartungsbedarf, welchem im damaligen politischen und wirtschaftlichen System der Sowjetunion möglicherweise nicht immer ordnungsgemäß nachgekommen wurde. (Soweit ich weiß, waren den Designern des RBMK diese Sicherheitsmängel durchaus bekannt und sie warnten vor einem leichtfertigen Umgang mit diesem Reaktortyp!)
Doch natürlich hat der RBMK auch seine Vorteile, weshalb dann viele von seinem Typ in der ehemaligen Sowjetunion gebaut wurden. So ist er beispielsweise leistungsstärker, dauerbetriebsfähiger, seine Bauteile leichter herstellbar, ... - kurzum: Er ist wirtschaftlicher als viele andere Reaktortypen.
Eine etwas ausführlichere Liste von Vor- und Nachteilen, sowie weitere Informationen zum RBMK gibt's übrigens z. B. auf Wikipedia.
Kernkraftwerk Tschernobyl aus nordwestlicher Blickrichtung. Im Vordergrund: Gebäude der nahen und heute verlassenen Stadt Prypjat. (Credit: Cs szabo, via Wikimedia Commons) |
Wie kam es nun zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl?
Nun ja, wie bei so gut wie allen Reaktorunfällen in der Geschichte ereignete sich der Unfall nicht im Normalbetrieb, sondern im Rahmen eines Tests. Dieser Test, der laut Sicherheitsvorschriften bereits vor der Inbetriebnahme drei Jahre zuvor stattfinden sollen hätte, sollte zeigen, dass die Rotationsenergie der auslaufenden Turbinen bei einem Stromausfall die Zeit bis zum Anlaufen der Notstromaggregate überbrücken und dabei weiterhin ausreichend Strom für die fortlaufende Kühlung des Reaktors produzieren kann.Ich werde nun einen ganz groben Überblick über den Unfallhergang geben (eine genauere Auflistung der Ereignisse findet man z. B. hier).
Der Test wurde in der Nacht begonnen. Dazu wurde der Reaktor vorerst heruntergefahren. Dieses Herunterfahren wurde allerdings unterbrochen, weil das Kraftwerk der Außenwelt wieder Strom liefern sollte. Dadurch entstand im Reaktor Xenon, welches Neutronen absorbiert und somit die Kettenreaktion einbremst.
Danach wurde das Kernnotkühlsystem abgeschalten (Teil der Testsimulation eines Stromausfalls) und der Reaktor weiterhin heruntergefahren. Er sollte auf 25 % der Nennleistung abgefahren werden.
Tja...blöderweise war dann Schichtwechsel - der Test hatte sich unerwartet verzögert und die neue Schicht war im Vorhinein nicht instruiert worden, denn sie hätte dieser Test im Normalfall nicht betroffen. Sie hatte somit wenig Ahnung von den Geschehnissen. Die Reaktorleistung wurde auf etwa 1 % der Nennleistung abgefahren. (Regelverletzung! - Die Leistung durfte solch niedrige Werte nie erreichen.) Um diesen Fehler zu kompensieren, wollte man den Reaktor wieder hochfahren. Durch das zuvor entstandene Xenon war die Kettenreaktion allerdings stark eingebremst ("Xenonvergiftung"), sodass man die Steuerstäbe unüblich weit herausziehen musste. (Eigentlich hätte man den Reaktor in dieser Situation ja abschalten müssen, weil die Mindestnennleistung von 20 % nicht erreicht werden konnte und weniger Steuerstäbe im Kern waren als erlaubt.) Der Reaktor wurde trotzdem weiterbetrieben. (Regelverletzung!)
Im Folgenden wurden weitere Bedien- und Interpretationsfehler der Signale gemacht (z. B. bemerkte man nicht, dass das Notkühlsystem noch von der vorhergehenden Schicht abgeschalten war).
Der Reaktor konnte allerdings stabilisiert werden, wobei der Wasserpegel in ihm nur bei zwei Drittel des vorgeschriebenen Wertes stand.
Nun - mehr als 24 Stunden später - begann man erneut mit dem Test.
Die Turbinenschnellschlussventile wurden geschlossen, wodurch die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern unterbrochen wurde und sich dieser dadurch stark erhitzte. Die Regelungstechnik reagierte richtig darauf und fuhr die Steuerstäbe ein. Aufgrund des oben bereits erwähnten Designfehlers der zu langsamen Einfahrgeschwindigkeit konnte die Situation allerdings nicht wirklich unter Kontrolle gebracht werden. Immer mehr Neutronen standen für die Kernspaltung zur Verfügung (u. a. auch deshalb, weil das zuvor entstandene Xenon, das die Spaltung bislang einbremste, nun verstärkt abgebaut wurde, also immer weniger Neutronen durch Absorption der Kernspaltung entzogen wurden). Der Reaktor erwärmte sich stark, wodurch Dampfblasen entstanden, welche aufgrund des positiven Dampfblasen-Koeffizienten wiederum die Reaktivität hochtrieben, wodurch der Reaktor noch heißer wurde, wiederum mehr Dampfblasen entstanden, die wiederum... - Naja, ihr seht schon: Die Effekte schaukelten sich gegenseitig auf.
Schnell veranlasste der Schichtleiter eine Reaktornotabschaltung. Dabei wurden alle Steuerstäbe (...langsam) in den Reaktor eingefahren. Leider machte sich nun ein weiterer Designfehler bemerkbar: Die meisten Spitzen der Steuerstäbe waren aus Graphit - also aus Moderatormaterial. Beim Einfahren der Stäbe wurde die Reaktorleistung also kurz angeheizt und erhöht, bevor die Steuerfunktion einsetzen konnte. Dieser Effekte genügte, um die sog. "prompte Kritikalität" zu überschreiten und den Reaktor in Sekundenbruchteilen derart zu überhitzen, dass Explosionen stattfanden, die sogar große Teile des Reaktorgebäudes zerstörten. Es war der 26. April, 1:23:44 Uhr.
Radioaktivität trat in die Umwelt aus.
Tschernobyl #4 wenige Tage nach der Explosion. (Credit: unknown, via boston.com) |
Nun gut...was passierte dann?
26. April, 4:30 Uhr (mehr als drei Stunden nach der Explosion): Der Schichtleiter meldete, dass der Reaktor intakt sei und nur einer Kühlung bedurfte. Diese Informationen gingen auch nach Moskau, was zur Folge hatte, dass die Evakuierung der 48.000-Einwohner-Stadt Prypjat erst am Tag darauf (am 27. April) begann. An diesem Tag fing man auch damit an, von Hubschraubern Blei, Bohr, Dolomit, Sand und Lehm auf das brennende Graphit und den Kern zu werfen, mit dem Ziel, die Spaltproduktfreisetzung zu vermindern.Der Rest der Welt wusste noch immer nichts von der Katastrophe; vor Ort wurde der Ernst der Lage und das Ausmaß der Katastrophe großteils herabgespielt oder nicht wahrgenommen.
Erst am darauffolgenden Tag - am Vormittag des 28. Aprils - löste im 1200 Kilometer entfernten, schwedischen Kernkraftwerk Forsmark ein Strahlenalarm aus. Nachdem man bald ermitteln konnte, dass die Radioaktivität im schwedischen Reaktorgebäude geringer war als die Radioaktivität außerhalb des Gebäudes, vermutete man als Grund einen Unfall auf sowjetischem Boden. Traurigerweise herrschte den ganzen Tag Nachrichtensperre seitens der Sowjetunion. Am Abend wurde Tschernobyl als Unfallort angegeben, doch es dauerte bis zum nächsten Tag (29. April) bis seitens sowjetischer Quellen erstmals von einer "Katastrophe" gesprochen wurde. Europa wusste nun also, dass etwas "Gröberes" im Kernkraftwerk Tschernobyl passiert war, hatte jedoch wenig Ahnung 1.) vom Ausmaß des Unfalls und 2.) vom "Quellterm", also von der Menge und der Art der freigesetzten Spaltprodukte. Es gab praktisch keine Informationen über den sowjetischen RBMK-Reaktortyp. Durch Messungen der Radioaktivität in Europa versuchte man, den Quellterm abzuschätzen. Immerhin musste man die Bevölkerung informieren und Verhaltensmaßnahmen nahelegen. Auch die Bilder der europäischen Satelliten konnten nur grob die Situation auflösen und waren nicht ausreichend, sie vollständig zu beurteilen.
Am 6. Mai 1986 - zehn Tage nach der Explosion im Block 4 - konnte die Spaltproduktfreisetzung weitgehend unterbunden werden.
Im nächsten Teil werde ich dann versuchen, die Katastrophe von Tschernobyl und die allgemeine Situation bezüglich der Energieerzeugung durch Kernkraftwerke in einem größeren Rahmen darzustellen und meine diesbezügliche Sichtweise zu argumentieren.
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