Samstag, 15. März 2014

Wie man um Ecken sehen kann

Vor wenigen Tagen wurde die Verkündung einer großen Entdeckung ("major discovery") im Rahmen einer Konferenz am Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics angekündigt. Worum es sich bei dieser Entdeckung genau handelt, wurde bisher verschwiegen.
Natürlich brodelt die Physiker-Gerüchteküche und es wird z. B. vermutet, dass die Konferenz mit einem gelungenen Nachweis von Gravitationswellen zu tun haben könnte. Das wäre natürlich ein herausragendes und spannendes Ergebnis!
Doch ich will hier eigentlich keine Vermutungen über das Thema der Konferenz am Montag anstellen, sondern die Gelegenheit nutzen, um über einen ungewöhnlichen Aspekt der speziellen Relativitätstheorie zu schreiben. (Die Gravitationswellen-Spekulationen der letzten Tage haben mich wohl auf diese Idee gebracht.)

Heute soll es darum gehen, wie man um Ecken sehen kann.


Vermutlich weiß eh jeder, dass die Lichtgeschwindigkeit nicht unendlich groß ist, sondern sich Licht mit endlichen 300 000 Kilometern pro Sekunde fortbewegt. Das heißt streng genommen dann auch, dass das Bild, das wir von unserer Umgebung haben, etwas "zeitverzögert" bei uns ankommt - einfach deshalb, weil das Licht erst den Weg in unsere Augen finden muss und es das nur mit endlicher Geschwindigkeit (der Lichtgeschwindigkeit) tun kann.

Der Einfachheit halber wollen wir uns unser Auge nun als simple Lochkamera vorstellen. Der für unsere Überlegungen wichtige Sehapparat ist also einfach eine Box mit einem kleinen Loch in einer Seite, durch welches Licht auf die hinter Wand fallen kann. (Bei einer Lochkamera wäre dann dort eine lichtempfindliche Platte o.ä.)
Ein menschliches Auge in erster Näherung als Lochkamera dargestellt.
Die Wände der schwarzen Box sind übrigens völlig gerade Linien - die Eindrückungen sind eine optische Täuschung.
(Zugrundeliegendes Bild von Talos, via Wikimedia Commons)

"Sehen" in unserem Lochkamera-Modell funktioniert ganz einfach: Licht fällt durch die kleine Öffnung und danach in einem geraden Strahl auf die hintere Wand (das entspricht der Netzhaut im richtigen Auge). Wir können dann feststellen, auf welchem Fleck der hinteren Wand die Photonen aufgetroffen sind und herausfinden, woher das Licht gekommen sein muss, indem wir eine Gerade vom Auftreffort zum Loch zeichnen, welche uns dann die Richtung des zuvor einfallenden Lichts angibt. Wir messen also alleine den Auftreffpunkt auf der hinteren Wand und wissen, woher das Licht ursprünglich gekommen ist.
Ich habe versucht, diesen Vorgang möglichst deutlich in der folgenden Animation darzustellen. Beachtet besonders, dass der Winkel des einfallenden Lichts und der Winkel der gedanklichen, rekonstruierenden Geraden hier gleich sind.
Ein Photon (Lichtteilchen) fällt durch das kleine Loch auf die hintere Wand der Lochkamera.
Durch die Position des Auftreffpunkts und der kleinen Öffnung kann man leicht die ursprüngliche Einfallsrichtung bestimmen.
Das alles ändert sich aber, sobald die Lochkamera nicht mehr in Ruhe ist, sondern sich z. B. auf das Licht zubewegt. Was dabei passiert, zeigt die nächste Animation: Die Kamera "läuft" dem Licht entgegen, wodurch dieses weniger lange unterwegs ist und früher auf der Wand auftrifft. Der springende Punkt bei der ganzen Sache ist nun, dass sich der Auftreffpunkt des Lichts in Richtung der Wandmitte bewegt, weil das Licht sozusagen "verfrüht von seiner geradlinigen Bahn angefangen wurde" und weniger Zeit hatte, sich so weit nach unten zu bewegen wie zuvor im Fall der ruhenden Kamera.
Rekonstruiert man anschließend die Richtung, aus der das Licht gekommen ist (Verbindungsgerade zwischen Auftreffpunkt und Loch zeichnen!), so weicht diese von der ursprünglichen ab. In der Animation soll dies durch den eingezeichneten Winkel φ zwischen ursprünglicher Strahlrichtung und der gedanklich rekonstruierten Strahlrichtung verdeutlicht werden. Aus unserer Sicht - der Sicht der Kamera - sieht es also aus, als würde das Licht flacher ankommen als es tatsächlich macht.
Bewegt sich die Kamera auf das Licht zu, so rutschen die Auftreffpunkte in Richtung der Wandmitte.
Das wahrgenommene Bild wird zu einem Punkt hin verdichtet, der genau in Blickrichtung liegt.
Stellt euch vor, dass diese Verschiebung zur Mitte für alle Auftreffpunkte des Umgebungslichts gilt - daraus folgt dann, dass sich die visuell erfasste Umwelt etwas zusammenzieht, und in Richtung eines Punktes, der genau in Bewegungs- bzw. Blickrichtung liegt.

Je schneller sich die Kamera bewegt, desto dramatischer wird dieser Effekt natürlich. Wenn ihre Geschwindigkeit bereits im Bereich der Lichtgeschwindigkeit liegt, ist es sogar möglich, dass die Kamera Licht auffängt, das sich ursprünglich gar nicht auf sie zubewegt hat - die Kamera fängt das Licht in gewisser Weise "im Laufen" ein.
Das könnte dann etwa so aussehen:
Durch die fast lichtschnelle Bewegung der Kamera kann Licht auf die hintere Wand fallen, welches niemals durch die Öffnung einer ruhenden Kamera gelangt wäre.
Das Zusammenziehen des wahrgenommenen Bildes zu einem Punkt in Bewegungsrichtung ist natürlich in diesem Fall noch dramatischer: Sogar Licht, dessen Bewegungsrichtung Anteile in Bewegungsrichtung der Kamera hat (="von hinten kommt"), kann die Kamera erreichen und aufgenommen werden.

Dies ist der Grund, warum man um Ecken sehen kann, wenn man sich nahe der Lichtgeschwindigkeit bewegt: Man "fängt" im Vorbeiflitzen Licht ein, das auf der abgewandten Seite der Wand reflektiert wurde.
Diesen Effekt können wir in unseren Alltagsleben nicht erkennen, weil die Lichtgeschwindigkeit im Vergleich zu unseren üblichen Bewegungsgeschwindigkeiten einfach so viel größer ist. Er wird erst bei nahezu Lichtgeschwindigkeit erkennbar.

Abschließend möchte ich euch noch ein paar weitere Kurzanimationen nahelegen, die den hier beschriebenen Effekt eindrucksvoll visualisieren. Eines kann ich euch versprechen: Die Welt für schnell Reisende sieht bizarr aus!
(Leider kann ich die Videos hier nicht einbinden, deshalb verlinke ich direkt auf sie. Möglicherweise muss man dem Browser das Ausführen eines Player-Plugins erlauben! Alle Animationen stammen von Ute Kraus und sind zu finden auf der Seite http://www.tempolimit-lichtgeschwindigkeit.de.)

(Sollte die direkte Verlinkung zu den Videos nicht funktionieren, könnt ihr Umwege über die, die und die Seite nehmen.)
Schnappschuss während der Annäherung an das Brandenburger Tor mit 90 % der Lichtgeschwindigkeit.
(Bild: Ute Kraus, Institut für Physik, Universität Hildesheim,Tempolimit Lichtgeschwindigkeit
(http://www.tempolimit-lichtgeschwindigkeit.de/))

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