Donnerstag, 23. April 2015

Die Suche nach der Weltformel lohnt sich! - Meine Antwort auf Prof. Taschners Presse-Beitrag


Sehr geehrter Herr Taschner!


Von der Überschrift “Die Suche nach der Weltformel ist keinen Groschen Einsatz wert” neugierig gemacht, habe ich Ihren Presse-Beitrag vom 8.4.2015 gelesen, in welchem Sie behaupten, die physikalischen Experimente am CERN hätten “nichts mit der Welt zu tun, in die wir hineingeboren wurden” und würden zu große Mengen an Steuergeldern verschlingen, ohne der Bevölkerung etwas zurückgeben zu können. Anstatt Geld “an den [sic] CERN zu verschleudern”, müsse Ihrer Meinung nach in “Physik mit Hand und Fuß” investiert werden - in Lehre und Forschung, die sich “mit Phänomenen auseinandersetzt, die uns wirklich betreffen”.

Der CMS-Detektor am Kernforschungszentrum CERN - eines jener
Forschungsprojekte, an dem Österreich stark beteiligt ist und dadurch beispielsweise
wesentlich zur Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 beigetragen hat.
(Credit: CERN)

Ich muss zugeben, nach dem Lesen Ihrer so klaren Worte war ich - gelinde formuliert - völlig verblüfft. Selten hört man eine solch scharfe und allumfassende Kritik an moderner Wissenschaft von einem renommierten Mathematikprofessor der Technischen Universität Wien. Noch seltener aber kommt es vor, dass - wie im Fall Ihres Presse-Artikels - eine solche Kritik auf so vielen Ebenen so fehl am Platz, zum Teil falsch und zutiefst besorgniserregend ist. Mit Ihren Aussagen greifen Sie nämlich nicht nur die “Physiker am CERN”, sondern vielmehr den gesamten Geist der Naturwissenschaften an. Einen derartigen Rundumschlag und Frontalangriff auf die Physik und all ihre benachbarten Disziplinen angemessen und in der notwendigen Ausführlichkeit zu kommentieren, ist in dieser kurzen Form unmöglich. Ich kann es aber nicht unversucht lassen!

Die Gründung des europäischen Kernforschungszentrums CERN liegt bereits mehr als 60 Jahre in der Vergangenheit. Seither ist die Liste an Entdeckungen, die dort gemacht wurden, gewachsen und enthält prominente Funde, wie z. B. die W- und Z-Bosonen (Vermittlerteilchen der Schwachen Wechselwirkung) oder das erst 2012 nachgewiesene Higgs-Boson. Alle hier genannten Teilchen sind Vertreter des “Standardmodells der Teilchenphysik”, das Modell, das erfolgreich den Aufbau und die Wechselwirkungen der uns aufbauenden und umgebenden Materie beschreibt. Obwohl das Standardmodell der Teilchenphysik “nur” 5 Prozent des Materie- und Energieanteils des gesamten Universums zu beschreiben vermag, behaupten Sie, es gäbe nun nichts mehr Lohnenswertes zu entdecken.

Materie- bzw. Energieanteil des heutigen Universums.
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die
hier mit "Atome" bezeichneten 4,9 Prozent.
Sie werfen den Physikern vor, dass ihre Forschung nichts mehr mit der Realität zu tun hätte, und stellen (zu meiner Verblüffung) den Geist der modernen Suche nach Physik jenseits des Standardmodells jenem der Entdeckung der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik gegenüber - ganz so, als würden sich die anfänglichen Motivationen zur Erforschung dieser Theorien unterscheiden. Eine solche Unterscheidung gibt es aber nicht!

Immer, wenn Physiker auf ein Phänomen stoßen, das sich nicht mit Hilfe der bekannten Modelle erklären lässt, versuchen sie, ein besseres Modell bzw. eine bessere Theorie zu finden, welche sowohl alle bisherigen als auch die neue Beobachtung zu beschreiben vermag. Aus dem Versuch, die Strahlung eines schwarzen Körpers zu verstehen, entstand (wie Sie bereits angemerkt haben) die Quantenmechanik. Aus den theoretischen Überlegungen Einsteins entstanden die beiden Relativitätstheorien, die nicht nur eine elegante Lösung für die damalige Ätherproblematik darstellen, sondern auch eine Vielzahl alter und neuer Phänomene mit erstaunlicher Präzision beschreiben. Der “Aufbruch ins Dunkle Universum” ist - ganz im Gegensatz zu dem, was Sie in Ihrem Text behaupten - gleichermaßen motiviert: So beobachten wir etwa Rotationen von Galaxienhaufen, die ganz und gar nicht durch unsere bestehenden Modelle erklärt werden können. Nach gründlicher Untersuchung mussten wir schlussfolgern, dass die plausibelste Erklärung für die Rotationsanomalien die Existenz einer neuen Form von Materie (der sog. "Dunklen Materie") darstellt. Genaue Analysen der Lichtspektren weit entfernter Sterne zeigen, dass das Universum beschleunigt (!) expandiert, was am einfachsten durch das Einführen einer “kosmologischen Konstante” in Einsteins Feldgleichungen charakterisiert wird. All diese Beobachtungen und Konzepte ließen uns etwa das Lambda-CDM-Modell formulieren. Dieses “Standardmodell der Kosmologie” beschreibt die Entwicklung des Universums seit dem Urknall mit beeindruckender Genauigkeit. Dabei können wir sogar viele Aussagen über die Eigenschaften des “Dunklen Universums” machen, obwohl uns dieses experimentell bislang unzugänglich ist. Beispielsweise hat Dunkle Materie grundlegend zur Strukturbildung im frühen Universum beigetragen - ohne Dunkle Materie würden wir alle vermutlich nicht existieren und ich würde mich nicht so sehr über Ihre Aussage ärgern, die moderne Physik hätte nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Im Laufe der Jahrhunderte haben die Ergebnisse unserer systematischen Untersuchung der Natur immer und immer wieder unsere Weltbilder zerschmettert und uns zum radikalen Umdenken gezwungen. Es war ein langer Weg von jener Welt, die für uns geschaffen worden zu sein und im Mittelpunkt des Kosmos’ zu ruhen schien, zu dieser Welt, deren Winzigkeit und Irrelevanz in Anbetracht der Enormität des Universums zu übertreiben schier unmöglich erscheint. Dabei wurden wir unzählige Male aufgrund neuer Erkenntnisse und der überwältigenden experimentellen Beweislage zum Umdenken gezwungen. Wenn uns die Geschichte in dieser Hinsicht etwas gelehrt hat, dann die Tatsache, dass uns der Hausverstand und unser Wunschdenken bei der Erforschung unserer Welt fast immer im Wege stehen.

Ließen unsere Theorien die Existenz mehrerer Universen nicht so plausibel erscheinen, würden wir Physiker diese Idee wohl nicht so laut verkünden. Wissen wir, ob es tatsächlich mehrere Universen gibt? - Nein. Wissen Sie, ob es mehrere Universen gibt? - Nein! Also wie können Sie so sicher sein, diese Möglichkeit hätte bestimmt nichts mit der Realität zu tun?
Sie könnten natürlich Recht behalten, sollte eines Tages ein Experiment diese Theorie widerlegen. Doch bis dahin sollte sich niemand anmaßen, etablierte physikalische Theorien und Konzepte aufgrund persönlicher Vorlieben als unrealistisch, falsch oder nicht erforschenswert zu bezeichnen. Bei allem Respekt, das sollten auch Sie nicht, Herr Taschner!
Es ist mir völlig unverständlich, wie Sie modernen physikalischen Experimenten (wie eben z. B. jenen am CERN) den Realitätsbezug absprechen können. Was sind solche Experimente, wenn nicht die Konfrontation der Theorie mit der Wirklichkeit? Was sind sie, wenn nicht der ultimative “Realitäts-Check” für wilde und spekulative Ideen? Die Behauptung, wir sollten uns mit den bekannten fünf Prozent unseres Universums zufrieden geben und alles andere sei “abstract nonsense”, grenzt an Arroganz.

Gegen Ende Ihres Beitrages schreiben Sie, dass es “Physik mit Hand und Fuß, die sich mit Phänomenen auseinandersetzt, die uns wirklich betreffen, die den Ingenieuren dienlich ist”, sein soll, die finanzielle Förderung erhält. Was Sie hier in schönen Worten sagen, ist, dass wir aufhören, in Grundlagenforschung zu investieren, und die finanziellen Mittel stattdessen in angewandte, zweckorientierte Forschung stecken sollten. Während letztgenannte Art der Forschung an sich natürlich überhaupt nichts Schlechtes ist, ist Ihre Position zu diesem Thema dennoch eine höchst besorgniserregende!

Synchrotron am MedAustron, einem der modernsten Zentren
für Ionentherapie in Wiener Neustadt. Hier (u.a.) kommen
Technik und Know-how aus der Teilchenphysik und
dem CERN direkt der Bevölkerung zu Gute.
(Credit: MedAustron)
Behaupten Sie, was Sie wollen, aber keine Grundlagenforschung zu betreiben, bedeutet über kurz oder lang Stillstand - technologischen und wirtschaftlichen. Auch Ihre Sorge, die zahlende Bevölkerung hätte keine Vorteile von der Grundlagenforschung, ist unbegründet. Vor allem Grundlagenforschung im Bereich der Teilchenphysik, wo Wissenschaftler und Ingenieure tagtäglich an die Grenzen des technisch Machbaren stoßen, erfordert und fördert Innovationen, die unmittelbar wieder der Gesellschaft zukommen. Eines der wohl meistzitierten Beispiele hierfür ist die Technik, die im medizinischen Bereich (z. B. Magnetresonanztomographie (MRI), Bestrahlungstherapie, u.v.m.) zum Einsatz kommt und deutlich die Lebensqualität eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung erhöht. Die Liste an ähnlichen Beispielen ist nahezu endlos lang.
Fest steht, dass Grundlagenforschung und Teilchenphysik für die Gesellschaft wichtig sind, wie Ihnen unter anderem jedes dieser Kurzvideos des Symmetry Magazines versichern wird.

Leider hat es den Anschein, dass Ihre Kritik bei der Teilchenphysik nicht Halt macht, sondern es sich, wie bereits weiter oben angesprochen, um einen Frontalangriff auf die gesamte Physik, die gesamten Naturwissenschaften und die gesamte Grundlagenforschung handelt. Ich halte es für sehr bedenklich, wenn ein “Nicht-Experte” über einen Fachbereich urteilt, in welchem er nicht aktiv arbeitet - vor allem dann, wenn er eine Position als bekannter Akademiker innehat. Sie kennen sich im Bereich der Physik unzweifelhaft besser aus als der Durchschnittsbürger, aber Sie würden sich nicht als Experte in diesem Gebiet bezeichnen können.
Ich selbst bekomme aufgrund meines Studiums Einblicke in die Welt der Mathematik, die weitaus tiefgründiger sind als jene des durchschnittlichen Steuerzahlers. Natürlich würde ich mich niemals als Mathematik-Experte bezeichnen. Im Gegensatz zu Ihnen würde ich aber auch niemals Grundlagenforschung im Bereich der Mathematik verteufeln, obwohl man - klischeehaft gesprochen - besonders den Mathematikern oft Realitätsferne vorwerfen könnte. (Mir ist an dieser Stelle durchaus bewusst, dass das Ziel der Mathematik nicht, wie im Fall der Physik, die Beschreibung der Natur ist.) Es gibt auch im Bereich der Mathematik zahlreiche Beispiele für die späte Anwendung anfänglich rein abstrakter Forschung, ohne die unser Alltag anders aussehen würde - eben genauso wie in der Physik.

Nun würde mich Eines interessieren, Herr Taschner: Soll Ihrer Meinung nach Grundlagenforschung im Bereich Mathematik aufhören? Nach allem, was Sie in Ihrem Beitrag geschrieben haben, müssen Sie diese Frage unausweichlich mit “ja” beantworten. Doch wäre das nicht eine überaus unzufriedenstellende, nicht akzeptable Antwort?

Ich komme nun zu meinem letzten und für mich stärksten Argument gegen Ihre Forderungen.
Was wären wir für Menschen, wenn wir aufhörten, Fragen über unsere Welt zu stellen, und wenn wir wirtschaftliches Denken Fragen, wie “Woher kommen wir und alles andere im Universum?”, “Wie ist das Universum, in dem wir leben, beschaffen?” oder “Wird es eines Tages enden?”, voranstellten? Welches Bild von der Welt sollten wir uns in diesem Fall machen? (Sollten wir wieder in eine Welt zurückkehren, in der wir uns von Autoritäten oder religiösen Institutionen vorschreiben lassen, was “wahr” und was “falsch” ist?) Es sind die fundamentalen Fragen, die uns Menschen seit jeher antreiben. Es sind diese Fragen, die Menschen wie mich letztendlich motivieren, jeden Tag aufzustehen und etwas zu schaffen.
Kinder fragen unaufhörlich, und sie wollen Antworten. Nicht selten sind es Antworten, die auch heute noch an vorderster Forschungsfront mit höchstem Einsatz gesucht werden. Erwachsene haben in vielen Fällen aufgehört, aktiv nach Antworten auf die fundamentalen Fragen zu suchen, doch das Interesse an der Beschaffenheit der Realität ist dennoch tief in ihnen verwurzelt, wie ich in vielen Situationen selbst erlebt habe.
Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, in der wir viele dieser Fragen zwar nicht (wie Sie richtig bemerkt haben) mit absoluter Sicherheit beantworten können, aber Modelle und Konzepte der Welt erstellen können, deren Wahrheitsgehalt und Realitätsnähe in der Tat höchst plausibel sind. Keine andere Disziplin neben der Physik vermag, dies in einem solch beachtlichen Ausmaß zu tun!


Abschließend bleibt mir nur noch festzuhalten, dass ich aufrichtig hoffe, dass Sie Ihre Meinung zum Thema Grundlagenforschung (v.a. in der Physik) noch einmal überdenken. Wir dürfen nicht aufhören, neugierig zu sein, und die Welt mit einem offenen und kritischen Geist zu erkunden - oder in anderen Worten: Grundlagenforschung zu betreiben! Hören wir damit auf, stirbt einer unserer wohl menschlichsten Züge. Über kurz oder lang würde dies nicht nur Stillstand bedeuten, sondern vielmehr sogar gewaltige gesellschaftliche Rückschritte.
Und am Anfang all dieser Entwicklungen würde ein harmlos erscheinender Gedanke stehen - nämlich der Gedanke, wir wüssten schon genug über die Welt und ihre weitere Erforschung würde sich nicht lohnen.


Mit freundlichen Grüßen,
Sebastian Templ

4 Kommentare:

  1. Hallo Sebastian,
    vielen Dank für diese wichtige Antwort!
    Der Artikel von Herrn Taschner ist erschreckend für mich. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Sinn jeglichen Forschens die unmittelbare Wirtschaftlichkeit ist, auch wenn der Trend in diese Richtung geht, was dieser Artikel (gerade von einem Mathematiker!) wieder zeigt.
    Homo investigans statt homo oeconomicus!

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    1. Danke, das kann ich nur unterschreiben!

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    2. Schön wie man den Abele durchhört ...

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    3. Mein Standpunkt ist kein exotischer. Die meisten Wissenschafter, so nehme ich an, teilen diese Meinung und argumentieren ähnlich. Überschneidungen sind also zu erwarten.

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