Sehr geehrter Herr Taschner!
Ich muss zugeben, nach dem Lesen Ihrer so klaren Worte war ich - gelinde formuliert - völlig verblüfft. Selten hört man eine solch scharfe und allumfassende Kritik an moderner Wissenschaft von einem renommierten Mathematikprofessor der Technischen Universität Wien. Noch seltener aber kommt es vor, dass - wie im Fall Ihres Presse-Artikels - eine solche Kritik auf so vielen Ebenen so fehl am Platz, zum Teil falsch und zutiefst besorgniserregend ist. Mit Ihren Aussagen greifen Sie nämlich nicht nur die “Physiker am CERN”, sondern vielmehr den gesamten Geist der Naturwissenschaften an. Einen derartigen Rundumschlag und Frontalangriff auf die Physik und all ihre benachbarten Disziplinen angemessen und in der notwendigen Ausführlichkeit zu kommentieren, ist in dieser kurzen Form unmöglich. Ich kann es aber nicht unversucht lassen!
Die Gründung des europäischen Kernforschungszentrums CERN liegt bereits mehr als 60 Jahre in der Vergangenheit. Seither ist die Liste an Entdeckungen, die dort gemacht wurden, gewachsen und enthält prominente Funde, wie z. B. die W- und Z-Bosonen (Vermittlerteilchen der Schwachen Wechselwirkung) oder das erst 2012 nachgewiesene Higgs-Boson. Alle hier genannten Teilchen sind Vertreter des “Standardmodells der Teilchenphysik”, das Modell, das erfolgreich den Aufbau und die Wechselwirkungen der uns aufbauenden und umgebenden Materie beschreibt. Obwohl das Standardmodell der Teilchenphysik “nur” 5 Prozent des Materie- und Energieanteils des gesamten Universums zu beschreiben vermag, behaupten Sie, es gäbe nun nichts mehr Lohnenswertes zu entdecken.
Materie- bzw. Energieanteil des heutigen Universums. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die hier mit "Atome" bezeichneten 4,9 Prozent. |
Immer, wenn Physiker auf ein Phänomen stoßen, das sich nicht mit Hilfe der bekannten Modelle erklären lässt, versuchen sie, ein besseres Modell bzw. eine bessere Theorie zu finden, welche sowohl alle bisherigen als auch die neue Beobachtung zu beschreiben vermag. Aus dem Versuch, die Strahlung eines schwarzen Körpers zu verstehen, entstand (wie Sie bereits angemerkt haben) die Quantenmechanik. Aus den theoretischen Überlegungen Einsteins entstanden die beiden Relativitätstheorien, die nicht nur eine elegante Lösung für die damalige Ätherproblematik darstellen, sondern auch eine Vielzahl alter und neuer Phänomene mit erstaunlicher Präzision beschreiben. Der “Aufbruch ins Dunkle Universum” ist - ganz im Gegensatz zu dem, was Sie in Ihrem Text behaupten - gleichermaßen motiviert: So beobachten wir etwa Rotationen von Galaxienhaufen, die ganz und gar nicht durch unsere bestehenden Modelle erklärt werden können. Nach gründlicher Untersuchung mussten wir schlussfolgern, dass die plausibelste Erklärung für die Rotationsanomalien die Existenz einer neuen Form von Materie (der sog. "Dunklen Materie") darstellt. Genaue Analysen der Lichtspektren weit entfernter Sterne zeigen, dass das Universum beschleunigt (!) expandiert, was am einfachsten durch das Einführen einer “kosmologischen Konstante” in Einsteins Feldgleichungen charakterisiert wird. All diese Beobachtungen und Konzepte ließen uns etwa das Lambda-CDM-Modell formulieren. Dieses “Standardmodell der Kosmologie” beschreibt die Entwicklung des Universums seit dem Urknall mit beeindruckender Genauigkeit. Dabei können wir sogar viele Aussagen über die Eigenschaften des “Dunklen Universums” machen, obwohl uns dieses experimentell bislang unzugänglich ist. Beispielsweise hat Dunkle Materie grundlegend zur Strukturbildung im frühen Universum beigetragen - ohne Dunkle Materie würden wir alle vermutlich nicht existieren und ich würde mich nicht so sehr über Ihre Aussage ärgern, die moderne Physik hätte nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
Sie könnten natürlich Recht behalten, sollte eines Tages ein Experiment diese Theorie widerlegen. Doch bis dahin sollte sich niemand anmaßen, etablierte physikalische Theorien und Konzepte aufgrund persönlicher Vorlieben als unrealistisch, falsch oder nicht erforschenswert zu bezeichnen. Bei allem Respekt, das sollten auch Sie nicht, Herr Taschner!
Es ist mir völlig unverständlich, wie Sie modernen physikalischen Experimenten (wie eben z. B. jenen am CERN) den Realitätsbezug absprechen können. Was sind solche Experimente, wenn nicht die Konfrontation der Theorie mit der Wirklichkeit? Was sind sie, wenn nicht der ultimative “Realitäts-Check” für wilde und spekulative Ideen? Die Behauptung, wir sollten uns mit den bekannten fünf Prozent unseres Universums zufrieden geben und alles andere sei “abstract nonsense”, grenzt an Arroganz.
Gegen Ende Ihres Beitrages schreiben Sie, dass es “Physik mit Hand und Fuß, die sich mit Phänomenen auseinandersetzt, die uns wirklich betreffen, die den Ingenieuren dienlich ist”, sein soll, die finanzielle Förderung erhält. Was Sie hier in schönen Worten sagen, ist, dass wir aufhören, in Grundlagenforschung zu investieren, und die finanziellen Mittel stattdessen in angewandte, zweckorientierte Forschung stecken sollten. Während letztgenannte Art der Forschung an sich natürlich überhaupt nichts Schlechtes ist, ist Ihre Position zu diesem Thema dennoch eine höchst besorgniserregende!
Fest steht, dass Grundlagenforschung und Teilchenphysik für die Gesellschaft wichtig sind, wie Ihnen unter anderem jedes dieser Kurzvideos des Symmetry Magazines versichern wird.
Leider hat es den Anschein, dass Ihre Kritik bei der Teilchenphysik nicht Halt macht, sondern es sich, wie bereits weiter oben angesprochen, um einen Frontalangriff auf die gesamte Physik, die gesamten Naturwissenschaften und die gesamte Grundlagenforschung handelt. Ich halte es für sehr bedenklich, wenn ein “Nicht-Experte” über einen Fachbereich urteilt, in welchem er nicht aktiv arbeitet - vor allem dann, wenn er eine Position als bekannter Akademiker innehat. Sie kennen sich im Bereich der Physik unzweifelhaft besser aus als der Durchschnittsbürger, aber Sie würden sich nicht als Experte in diesem Gebiet bezeichnen können.
Ich selbst bekomme aufgrund meines Studiums Einblicke in die Welt der Mathematik, die weitaus tiefgründiger sind als jene des durchschnittlichen Steuerzahlers. Natürlich würde ich mich niemals als Mathematik-Experte bezeichnen. Im Gegensatz zu Ihnen würde ich aber auch niemals Grundlagenforschung im Bereich der Mathematik verteufeln, obwohl man - klischeehaft gesprochen - besonders den Mathematikern oft Realitätsferne vorwerfen könnte. (Mir ist an dieser Stelle durchaus bewusst, dass das Ziel der Mathematik nicht, wie im Fall der Physik, die Beschreibung der Natur ist.) Es gibt auch im Bereich der Mathematik zahlreiche Beispiele für die späte Anwendung anfänglich rein abstrakter Forschung, ohne die unser Alltag anders aussehen würde - eben genauso wie in der Physik.
Ich komme nun zu meinem letzten und für mich stärksten Argument gegen Ihre Forderungen.
Was wären wir für Menschen, wenn wir aufhörten, Fragen über unsere Welt zu stellen, und wenn wir wirtschaftliches Denken Fragen, wie “Woher kommen wir und alles andere im Universum?”, “Wie ist das Universum, in dem wir leben, beschaffen?” oder “Wird es eines Tages enden?”, voranstellten? Welches Bild von der Welt sollten wir uns in diesem Fall machen? (Sollten wir wieder in eine Welt zurückkehren, in der wir uns von Autoritäten oder religiösen Institutionen vorschreiben lassen, was “wahr” und was “falsch” ist?) Es sind die fundamentalen Fragen, die uns Menschen seit jeher antreiben. Es sind diese Fragen, die Menschen wie mich letztendlich motivieren, jeden Tag aufzustehen und etwas zu schaffen.
Kinder fragen unaufhörlich, und sie wollen Antworten. Nicht selten sind es Antworten, die auch heute noch an vorderster Forschungsfront mit höchstem Einsatz gesucht werden. Erwachsene haben in vielen Fällen aufgehört, aktiv nach Antworten auf die fundamentalen Fragen zu suchen, doch das Interesse an der Beschaffenheit der Realität ist dennoch tief in ihnen verwurzelt, wie ich in vielen Situationen selbst erlebt habe.
Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, in der wir viele dieser Fragen zwar nicht (wie Sie richtig bemerkt haben) mit absoluter Sicherheit beantworten können, aber Modelle und Konzepte der Welt erstellen können, deren Wahrheitsgehalt und Realitätsnähe in der Tat höchst plausibel sind. Keine andere Disziplin neben der Physik vermag, dies in einem solch beachtlichen Ausmaß zu tun!
Abschließend bleibt mir nur noch festzuhalten, dass ich aufrichtig hoffe, dass Sie Ihre Meinung zum Thema Grundlagenforschung (v.a. in der Physik) noch einmal überdenken. Wir dürfen nicht aufhören, neugierig zu sein, und die Welt mit einem offenen und kritischen Geist zu erkunden - oder in anderen Worten: Grundlagenforschung zu betreiben! Hören wir damit auf, stirbt einer unserer wohl menschlichsten Züge. Über kurz oder lang würde dies nicht nur Stillstand bedeuten, sondern vielmehr sogar gewaltige gesellschaftliche Rückschritte.
Und am Anfang all dieser Entwicklungen würde ein harmlos erscheinender Gedanke stehen - nämlich der Gedanke, wir wüssten schon genug über die Welt und ihre weitere Erforschung würde sich nicht lohnen.
Mit freundlichen Grüßen,
Sebastian Templ
Sebastian Templ
Hallo Sebastian,
AntwortenLöschenvielen Dank für diese wichtige Antwort!
Der Artikel von Herrn Taschner ist erschreckend für mich. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Sinn jeglichen Forschens die unmittelbare Wirtschaftlichkeit ist, auch wenn der Trend in diese Richtung geht, was dieser Artikel (gerade von einem Mathematiker!) wieder zeigt.
Homo investigans statt homo oeconomicus!
Danke, das kann ich nur unterschreiben!
LöschenSchön wie man den Abele durchhört ...
LöschenMein Standpunkt ist kein exotischer. Die meisten Wissenschafter, so nehme ich an, teilen diese Meinung und argumentieren ähnlich. Überschneidungen sind also zu erwarten.
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