Montag, 29. Dezember 2014

Finden, was man nicht sehen kann - mit Lupen, die man nicht bauen kann

Kennt ihr das, wenn einem irgendetwas oder irgendjemand die Sicht verstellt? Ihr seid bei einem Konzert, steht in der Menge und ärgert euch, weil ihr einfach nicht an eurem Vordermann vorbeischauen und nur selten einen längeren Blick auf die Lieblingssängerin auf der Bühne werfen könnt? Ihr wollt die Auslage eines Geschäfts auf der anderen Straßenseite betrachten, seht sie aber nicht, weil die Straßenbahn gerade davor hält? Ihr sitzt in einem Klassenzimmer oder Seminarraum und könnt einfach nicht lesen, was auf der Tafel steht, sondern nur den T-Shirt-Spruch des Kollegen in der ersten Reihe?

Zumindest mir ist es schon oft so ergangen. Und niemals hätte ich mir (vor meiner Beschäftigung mit der Physik) gedacht, dass es im Prinzip eine Möglichkeit in der Natur gibt, Objekte zu sehen, die von anderen verdeckt werden. Das Phänomen, welches ich hier meine, nennt man Gravitationslinseneffekte. Es handelt sich um einen im Grunde relativ simplen, aber dennoch sehr verrückten Mechanismus, von dem es verschiedene Varianten gibt. Zwei dieser Varianten, nämlich den starken und den schwachen Gravitationslinseneffekt, werde ich heute kurz vorstellen. Eines kann ich euch gleich jetzt verraten: Die tatsächlichen Bilder von astronomischen Beobachtungen sind beeindruckend und faszinierend!


Der starke Gravitationslinseneffekt

Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie zufolge verformt jede Masse die Raumzeit. Diese auch als (Raumzeit-)Krümmung bezeichnete Verformung ist bei unseren gewohnten, irdischen Massen so klein, dass man sie kaum bemerkt. Erst bei größeren Massen wird der Effekt deutlich: Massereiche Objekte, wie Neutronensterne, schwarze Löcher, Galaxien oder Galaxienhaufen krümmen Raum und Zeit unter Umständen so stark, dass die Auswirkungen dieser Raumzeitverformungen deutlich sichtbar werden.

Licht bewegt sich ja entlang der Raumzeit. Es kann gar nicht anders - auf gewisse Weise ist es (so wie wir alle) in der Raumzeit "eingesperrt" und auf sie beschränkt. Ist also die Raumzeit durch ein massereiches Objekt gekrümmt, so folgt "vorbeifliegendes" Licht einfach dieser Krümmung - und seine Bahn ist ebenfalls gekrümmt. Am besten kann man sich sowas immer vorstellen, wenn man es aufzeichnet - also voilà, hier ist ein Bild davon:

Schematisches Funktionsprinzip einer Gravitationslinse.
(Credit: Horst Frank aus der deutschsprachigen Wikipedia)

Wird einem die Sicht auf einen Stern oder eine Galaxie also von einem ausreichend massereichen Objekt verstellt, so kann es sein, dass man Abbildungen des eigentlich nicht sichtbaren Objekts neben dem "beugenden" Objekt sieht. In der obigen Skizze erkennt man als Erdbeobachter also das Raumzeit-krümmende "Objekt mit großer Masse" im Zentrum, während man darüber und darunter ein Bild des selben Hintergrundsterns ("Wellenquelle") sieht. Im dreidimensionalen Fall, wenn Beobachter, Gravitationslinse und Hintergrundstern perfekt auf einer Linie liegen, würde man den Hintergrundstern tatsächlich als Ring um die zentrale Galaxie sehen. Verrückt, oder?

Soweit die Theorie.
Nun stellt sich naturgemäß die Frage, ob man solche Gravitationslinseneffekte bereits tatsächlich beobachten konnte. Großartigerweise ja - es gibt viele Bilder von starken Gravitationslinseneffekten.
Ein ganz besonders eindrucksvolles ist z.B. das folgende, welches eine Hintergrundgalaxie als annähernd perfekten Ring darstellt. Eine solche Erscheinungsform wird übrigens weitläufig als Einstein-Ring bezeichnet.

Nahezu geschlossener Einstein-Ring (LRG 3-757): Die rote Vordergrundgalaxie krümmt die Raumzeit dermaßen, dass das Licht der weiter entfernten, blauen Galaxie uns in einem Raumwinkel erreicht, der die blaue Galaxie als riesigen Ring erscheinen lässt.

Ein Einstein-Ring tritt nur dann auf, wenn die drei astronomischen Objekte schön aufgefädelt entlang einer Linie liegen und wenn die Gravitationslinse die Raumzeit in alle Richtungen gleich stark krümmt. Bei einem schwarzen Loch könnte man sagen, dass zumindest letzteres der Fall ist.

Simulation des Gravitationslinseneffekts bei einem schwarzen Loch.
Ein schwarzes Loch zieht an einer im Hintergrund befindlichen Galaxie vorbei. (Erinnern euch die Bilder etwas an das schwarze Loch in Christopher Nolans Film "Interstellar"?)
(Credit: Urbane Legend, via Wikimedia Commons)

Sobald allerdings das "Beugungszentrum" nicht mehr aus einem gleichförmigen (isotropen) Objekt besteht, sondern z. B. einem ganzen Haufen von Galaxien, ist eine gleichförmige Abbildung à la Einstein-Ring nicht mehr möglich und das Objekt erscheint mehrfach abgebildet um das Zentralobjekt. Ein berühmtes Beispiel dafür ist das sog. Einstein-Kreuz im Sternbild Pegasus.

Das sog. Einstein-Kreuz (G2237 + 0305) wurde vom Hubble Space Telescope abgelichtet und zeigt einen weit entfernten Quasar, der durch die Gravitationslinsenwirkung einer relativ nahen Galaxie (mittleres Objekt) vierfach abgebildet ist.


Der schwache Gravitationslinseneffekt

Je weiter man von einer "beugenden" Masse - einer Gravitationslinse - wegschaut, desto schwächer werden die Raumzeit-Krümmungseffekte. Sind nun auch die drei Objekte (Erdbeobachter, Gravitationslinse und abzubildendes Hintergrundobjekt) nicht mehr schön entlang einer Linie angeordnet, so kann man sich leicht vorstellen, dass man anstelle von einem vollständigen Einstein-Ring nur mehr einen unvollständigen (einen kleinen Ringabschnitt) sieht. Hintergrundobjekte sind in diesem Fall nur noch etwas "ausgeschmiert" und mehrfache Abbildungen treten nicht mehr auf. Solche Gravitationslinseneffekte sind nicht mehr so einfach erkennbar und man muss sie mit Hilfe von statistischen Methoden finden.

Nichtsdestotrotz kann man durch Analyse dieser schwachen Gravitationslinseneffekte auf die "beugenden" Massezentren rückschließen und deren Materieverteilung bestimmen. Diese Methode wird u. a. angewendet, um größere Ansammlungen Dunkler Materie zu finden. Diese Dunkle Materie ist unsichtbar, da sie weder Licht absorbiert noch abstrahlt, krümmt allerdings sehr wohl die Raumzeit und wirkt somit gravitativ auf umliegende "normale" Materie. (Ich werde in einem meiner nächsten Artikel anhand einer beeindruckenden Aufnahme etwas mehr über Dunkle Materie erzählen.)

Es gibt sogar einige Bilder von riesigen vermuteten Ansammlungen Dunkler Materie, welche man durch Analyse der schwachen Gravitationslinseneffekte gefunden hat. Oftmals werden sie künstlich eingezeichnet, um sie für den Betrachter sichtbar zu machen. Hier ein Beispiel:

Der Galaxienhaufen CL0024+17.
Im optischen Bereich sieht er so aus wie im linken Bild. Rechts ist die Dunkle Materie in blau eingezeichnet, die man mit Hilfe der Analyse der Gravitationslinseneffekte gefunden hat. Es sind sogar Strukturen der Dunklen Materie erkennbar - hier etwa ein Ring.
Ich finde nicht nur die Gravitationslinseneffekte im optischen Bereich spannend und schön anzusehen, sondern es ist für mich auch unglaublich faszinierend, dass man den Aufenthaltsort von etwas, das per Definition unsichtbar ist, durch indirekte Beobachtungen bestimmen kann!


Mit dem folgenden Bild des Hubble-Weltraumteleskops möchte ich diesen Text nun abschließen. (Könnt ihr darin ein paar Gravitationslinseneffekte erkennen?)

Einer der massereichsten Galaxienhaufen: Abell 1689.
Er wirkt wie eine kosmische Lupe mit dem Durchmesser von zwei Millionen Lichtjahren.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen